
Choreo-akustische Verwandlungen
Aus dem Halbdunkel ertönen einzelne, präzis gesetzte Klänge. Etwa fünf Minuten lang bleibt die Bühne leer. Dann stolpert die Tänzerin Maria Colusi auf die Bühne, tastet sich vorsichtig in den Lichtkreis hinein, der den Bühnenraum markiert. Ihre Bewegungen beginnen groß, werden kleiner, enger, schneller, umkreisen schließlich nur noch den eigenen schmalen Körper. Die Szene wirkt wie ein Ringen mit einem inneren Widerstand. Immer wieder verschwindet die Tänzerin am Rand der Dunkelheit, taucht wieder auf, als müsse etwas aus ihr heraus. Eine Entladung oder eine Geste der Ablösung. Plötzlich ein Schrei – roh und ziemlich unvermittelt. Mit dem Einsetzen der Stimme verschiebt sich das Setting. Das Licht ändert sich, der Klang wird elektronischer und rhythmischer. Die Choreografie verlagert sich näher zum Boden, wird fließender, gleitender. Der Körper verliert seine Vertikalität, sucht neue Verbindungen zwischen Klang, Fläche und Gravitation.
In SWAP, dem Eröffnungsstück des soundance festival berlin, entwickelt von der Tänzerin Maria Colusi und dem Komponisten Edgardo Rudnitzky, ist Klang kein Zusatz zum Tanz sondern eigenständiges Material und Impulsgeber zugleich. Rudnitzkys Kompositionen sind nicht auf eine Choreografie appliziert – sie entstehen mit ihr. Klang ist hier ein physisches Ereignis, das den Zeit-Raum strukturiert und die Choreografie beeinflusst, sowie es von ihr beeinflußt wird.
SWAP zeigt keine lineare Erzählung, sondern eine körperlich-akustische Recherche: ein Spiel mit Übergängen, mit Reibung und Auflösung – und zugleich eine Reflexion über körperliche und emotionale Zustände, inspiriert von der antiken Theorie der vier Körpersäfte, die auf der Vier-Elementen-Lehre (Feuer - Wasser - Erde - Luft) basierte, und die in ihrer vorwissenschaftlichen Logik physische, psychische und kosmische Positionen miteinander verschränkte. Denn die medizinische Humoraltheorie begreift den menschlichen Körper nicht als isoliertes System, vielmehr als poröses Gefüge, in dem innere und äußere Einflüsse, Körperorgane und Umwelt, Temperamente und Gestirne untrennbar miteinander verwoben sind. Sie steht für ein ganzheitliches Weltverständnis, in dem alles miteinander verwandt und in Resonanz ist. Dabei geht es nicht um Hierarchie und Vorherrschaft: Es geht um Gleichgewicht, um Ausbalancieren – um Kollaboration statt Konkurrenz – wie in SWAP, wo Klang, Bewegung und Licht nicht nur getrennt voneinander existieren, sondern sich wechselseitig formen, beeinflussen und durchdringen. In jenem vibrierenden Zwischenraum, in dem sich der Körper und seine Stimme auch als Instrument und die Musik als Bewegung begreift, beginnt eine Form des Dialogs, der weit über ein konkurrierendes Nebeneinander von Tanz und Musik hinausgeht. In ihren wechselseitigen Übersetzungen, Rekonfigurationen und Transformationen, in Verhandlungen zwischen Widerstand und Entgegenkommen, Selbstbehauptung und Selbstverwandlung entstehen hybride Ausdrucksformen, die die Grenzen zwischen Choreografie und Musik unterlaufen und ein Verständnis für die Wechselwirkungen zwischen Klängen, Bewegungen, Zeit und Raum vertiefen.
Das Stück macht spürbar, was im Zentrum des soundance Festivals steht, das dieses Jahr in der neunten Folge stattfindet und sich seit Jahren als Labor für Begegnungen von Klang und Bewegung versteht. Hier treffen sich Künstler*innen, die das Trennende zwischen Klangkomposition und Choreografie bewusst unterlaufen – zugunsten eines offenen Experimentierens mit Form, Geste, Ton und Rhythmus. Hier wird nicht illustriert oder begleitet, sondern gemeinsam komponiert, choreografiert und improvisiert. Wann wird Bewegung zu Musik, Klang zur Geste – und in welchem Moment wird beides zu Choreografie? Wie verändert sich die Choreografie in der Zusammenarbeit mit Musiker*innen, und wie verändert sich die Musik unter den Bedingungen ihrer choreografischen Inszenierung?
Diese wechselseitigen Transformationen, Übersetzungen und Reibungen öffnen eine andere Wahrnehmung der Beziehungen zwischen Klang und Raum, Bewegung und Zeit. Der Aspekt der Körperlichkeit von Klang und Musik – ihre materielle aber unsichtbare Präsenz im Raum – tritt dabei deutlich hervor, indem sie zur physischen Erfahrung wird: etwas, das vibriert, drückt, sich ausdehnt, sich zurückzieht… Es entsteht ein Zustand der wechselseitigen Aufmerksamkeit, in dem das Sensorische und das Imaginäre sich gegenseitig bereichern.
Ein solcher offener Resonanzraum bildet auch den Ausgangspunkt für AURORA, eine gemeinsame Improvisation von Ale Hop (Sound), Lina Gómez (Tanz) und Bruno Pocheron (Licht), die sich der Dämmerung als Schwellenzustand widmet.
Der Beginn ist leise, tastend: Die Musik entfaltet sich in zarten, flirrenden pulsierenden Klängen – wie ein langsames Erwachen. Einzelne Töne dehnen sich zu flächigen Resonanzen aus, werden fragmentiert, verzerrt, rückwärts abgespielt. Es entsteht ein oszillierender Strom aus Klangpartikeln: scharfkantig, weich, dröhnend, hämmernd. Die Form bleibt offen – eher ein Zustand als ein Verlauf, durchzogen von sich überlagernden Impulsen, unter denen leise Spannung vibriert.
Ale Hop arbeitet mit elektroakustisch bearbeiteter E-Gitarre, digitalen Effekten und Synthesizern und entfaltet eine vielschichtige, vom leisen Zwitschern bis in monströses Stampfen reichende Klanglandschaft. Die Gitarre wird dabei nicht als klassisches Instrument gespielt, sondern als klangproduzierendes Objekt begriffen – sie zirpt, kratzt, rauscht, summt.
Lina Gómez sitzt zunächst reglos an der Studiowand, lauschend. Allmählich beginnt sie sich zu bewegen – Rückenwirbel für Rückenwirbel richtet sie sich auf, als würde ihre Wirbelsäule direkt auf die Vibrationen des Sounds reagieren. Ihr Körper entfaltet sich mehrgliedrig, verdreht sich, als würde sie sich von innen heraus aufdrehen. Die Schatten, die sie im Licht von Bruno Pocheron auf die rückwärtige Bühnenwand wirft, verstärken diese Vielschichtigkeit. Ihr Gesicht verschwindet hinter herabfallendem Haar, ihre Mimik bleibt unlesbar.
In AURORA entsteht ein sensibler Dialog zwischen Sound, Tanz und Licht: ein gegenseitiges Aufnehmen, Transformieren und Zurückspielen von Impulsen. Ein choreografisches Hören, ein synästhetischer Prozess, der Bewegung, Licht und Klang spiralförmig hochschraubt. Ale Hop entfaltet einen fein kalibrierten dramaturgischen Spannungsbogen, der nie ins Spektakuläre kippt, sondern die Aufmerksamkeit tief in einen klanglichen Mikrokosmos lenkt. Elektronische Manipulationen suggerieren abwechselnd Nähe, Ferne, Fläche und Tiefe. Melodiöse Fragmente tauchen auf, lösen sich auf. Die Musik lebt von Brüchen und Überlagerungen, von der Spannung zwischen Analogem und Digitalem, zwischen Kontrolle und vermeintlichem Kontrollverlust – bis sich die Atmosphäre spürbar verschiebt: Der Sound verdichtet sich, wird dunkler und kratziger. Harsche Drones und glühende Rückkopplungen durchschneiden den Raum. Linas Blick, jetzt klar erkennbar, wird direkt, fordernd. Das Licht verschiebt sich – diagonale Schattenlinien durchkreuzen den Raum, queere Lichtbahnen erschließen eine neue räumliche Dimension. Gómez` Bewegungen werden bodennäher, Füße, Beine, ihr ganzer Körper scheinen sich im Boden zu verankern. Die Gravitation scheint zuzunehmen – verstärkt durch rhythmisch wiederholte Gitarrenriffs, die Ale Hop durch den Raum wirbeln lässt. So verdichten sich Klang, Licht und Körper zu einem gemeinsamen Sog, der sich zugleich nach innen und außen entfaltet. AURORA bleibt in der Schwebe zwischen Auflösung und Verdichtung.
Die Musik verliert ihren Anspruch auf Unantastbarkeit, die Choreografie ihren Anspruch auf Sichtbarkeit. Bewegungen werden zu klangerzeugenden Handlungen, Klänge choreografieren ihre eigene Präsenz im Raum. Der Körper schreibt sich in die Musik ein – und die Musik formt die Bewegung. Es entsteht ein artikulierter Zwischenraum, in dem sich Bedeutungen verschieben, Hierarchien auflösen, Wahrnehmung neu kalibriert wird. Der Klang erhält eine physische Qualität, die tastbar wird; die Bewegung hingegen gewinnt eine akustische Spur, einen Nachklang im Raum, der über das Sichtbare hinausreicht. Was entsteht, ist keine bloße Ergänzung, sondern eine gegenseitige Verwandlung – eine choreo-akustische Topographie, in der Zeit, Raum, Körper und Klang neu kartiert werden.
Berlin, 26.06.2025
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