PULSE - A dialogue of instincts

Impuls und Reibung: Eine zeitgenössische Begegnung mit Flamenco

Der Raum liegt im Dämmerlicht. Eine einzelne Glühbirne wirft diffuses Licht auf das Zentrum der Bühne – eine schlichte, rechteckige Holzplatte, die zugleich isolierende Begrenzung und akustische Resonanzfläche bildet. Die beiden Tänzer*innen, Sita Ostheimer und Álvaro Murillo, bewegen sich anfangs weich fließend, synchron, in so geringer Amplitude, dass ihre Bewegungen mit Stillstand verwechselt werden könnten. Die Atmosphäre ist konzentriert, beinahe rituell. Es wirkt, als würde Bewegung nicht von außen initiiert, sondern von innen her gegen den Widerstand des Raums an die Oberfläche gedrängt. PULSE eröffnet in stiller Dichte und konzentrierter Atmosphäre, in dem sich Bewegung nicht als fertige Form zeigt, sondern langsam und behutsam aus der Spannung zwischen Körper und Raum heraus zu entstehen scheint – als ginge sie aus einem geteilten Impuls hervor, der erst noch seine Gestalt finden muss. Nichts wirkt vorgefasst oder demonstrativ; vielmehr zeigt sich Bewegung als tastende Suche nach physischer Präsenz.

Erst allmählich wird erkennbar, welche Traditionslinie im Stück mitverhandelt werden: die des Flamenco. Die Auseinandersetzung bildet einen wichtigen Subtext des Abends, wird jedoch nicht illustrativ oder dekorativ verhandelt. Im Zentrum steht nicht Bestätigung, sondern Dekonstruktion und Transformation – eine zeitgenössische Befragung der Tradition. Wie es Sita Ostheimer und Álvaro Murillo beschreiben: „In unserer Arbeit ging es nicht darum, Flamenco zu bewahren oder umzugestalten. Wir sind nicht an Flamenco herangegangen als etwas Fragiles oder Heiliges – sondern als etwas Lebendiges, das sich bewegen, brechen, neu formen und atmen kann, auch in anderen Räumen.“
Allmählich wird die Körpersprache expressiver, ohne aus der kontrollierten Spannung auszubrechen. Die Oberkörper bleiben zentriert, während die Arme größere Bögen beschreiben – keine dekorativen Figuren, sondern tastende, suchende Bewegungen. Die Luft scheint zäh, die Bewegung darin schwer. Die Schritte und Beinarbeit, teils zeitlupenhaft und eng, teils kämpferisch weit ausholend, bleiben annähernd synchron – mit einer entscheidenden Differenz: Sita Ostheimer tanzt barfuß, Álvaro Murillo in Stiefeletten. Daraus ergibt sich eine ungleiche Verteilung von Schutz und Verletzbarkeit, das sich nicht nur visuell, sondern auch akustisch zeigt: Es ist Murillo, der mit seinen schweren, hallenden Schritten den Rhythmus vorgibt, ihn dominant artikuliert und die Dynamik der Szene akustisch antreibt.

Die Blickachsen beider richten sich nach und nach frontaler ins Publikum – ruhig, aber zunehmend fordernd und konfrontativ. Zwischen den Performer*innen entsteht ein spürbares Spannungsfeld. Nähe und Distanz werden nicht sanft austariert, sondern konflikthaft verhandelt. Berührungen werden angedeutet und zurückgenommen, die Spannung liegt im Dazwischen. Es ist kein Dialog im Sinne von Aktion und Reaktion, sondern ein gegenseitiges Befragen – vermittelt über minimale Verschiebungen im Raum, über Gewicht, Atem, Impuls.

„Der Ausgangspunkt war Neugier und Vertrauen – das Vertrauen darauf, dass etwas aus der Begegnung selbst wachsen würde“, schreiben sie mir rückblickend auf den Entstehungsprozess. Und so entwickelt sich weniger eine lineare Dramaturgie, sondern eine Abfolge physischer Zustände. PULSE arbeitet mit Reibung, mit Widerstand, mit Anziehung und Auflösung. Aus der dichten Interaktion der beiden Tänzer*innen treten nach und nach einzelne Merkmale von Flamenco hervor: die ausdrucksstarke Verwendung der Arme, die komplexe Beinarbeit, das rhythmische Klatschen (palmas), das Fingerschnalzen (pitos) – und nicht zuletzt die vehemente Vertikalität, die den Flamenco auszeichnet. Eine Vertikalität, die schließlich gebrochen wird, wenn der Rhythmus und die stampfenden Füße bis an die Schwelle körperlicher Erschöpfung treiben. Der kleine, klar begrenzte Bühnenbereich – der Holzboden – wird dabei nie verlassen. Er definiert den Raum der Begegnung: als intime Konzentration, aber auch als unausweichliche Enge. Nichts verläuft ins Offene – alles wird innerhalb dieses engen, isolierten Rahmens ausgehandelt.

In den letzten Jahrzehnten hat sich der Flamenco und seine Aufführungspraxis grundlegend gewandelt. Weg von der festgelegten Bühne, weg vom tablao – der klassischen Flamenco-Bühne, meist in einer Bar oder einem kleinen Veranstaltungsraum, in dem Tanz, Gesang und Gitarre live und direkt aufgeführt werden. Weg auch von jener technischen Virtuosität, die den Flamenco lange dominiert hat. Zeitgenössische Flamenco-Künstler*innen wie Rocío Molina, Israel Galván oder Belén Maya begreifen ihn als offenes, lebendiges Archiv – ein Archiv, das nicht nur durch Bewahrung, sondern vor allem durch Infragestellung und Neubewertung überlebt: von Identität, Herkunft, Gender, Körper – und deren gegenwärtiger Konstruiertheit.

Diese Perspektivwechsel verschieben den Fokus: Weg vom kodifizierten Ausdruck, hin zum körperlich erfahrbaren Impuls. Flamenco wird nicht mehr „ausgeführt“, sondern physisch durchgearbeitet – durch Reibung, Fragmentierung, Stillstand und Wiederaufnahme. Genau das geschieht in PULSE: Die Körper erzeugen Erfahrungsräume. Die Bewegungen zielen nicht auf Repräsentation, sondern auf lebendige Präsenz. Entscheidend ist, welche Spannungen sie erzeugen, welche Reibungen sie auslösen, welchen Widerstand sie spürbar machen – und welche schweißtreibende Kraft das kostet.
„Es ging nicht darum, etwas zu dekorieren oder miteinander zu verschmelzen, sondern Kontraste natürlich entstehen zu lassen – Gewicht und Schwebe, Schärfe und Fluidität, Kontrolle und Risiko. Doch mehr noch als Gegensätze, fanden wir eine gemeinsame Basis: Instinkt, Präsenz, Unmittelbarkeit, Rhythmus. Diese Qualitäten sind weder dem Flamenco noch der zeitgenössischen Bewegung exklusiv vorbehalten – sie sind das, was uns verbindet“, so die beiden.

PULSE dekonstruiert den Flamenco nicht, um ihn aufzulösen, sondern um ihn freizulegen: als energetisches Archiv, als Ausdrucksform jenseits stilistischer Grenzen. Die Transformation ist keine Abkehr von seiner Tradition, die von Anfang an einen subversiven Character hatte, sondern einen Öffnung. Der Flamenco wird dadurch nicht nivelliert, vielmehr als lebendiges Archiv neu aktiviert und artikuliert – offen für Brüche, Verschiebungen und Neuanfänge.

Berlin, 04.07.2025

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