MASH DANCE 2025

Mash Dance Berlin

Sechs ausgewählte Tanzperformances israelischer Choreograf*innen präsentiert von Machol Shalem Dance House (MASH) Jerusalem

Zerrissene Gegenwart oder Tanz im Ausnahmezustand

Die Mauern stehn
sprachlos und kalt, im Winde
klirren die Fahnen.

(Friedrich Hölderlin: Hälfte des Lebens)

Wie begegnen wir einer Gegenwart, in der Wirklichkeit zunehmend zur Frage der Perspektive wird – gefiltert, gefaked, zerstückelt, überlagert von Bildern, Narrativen und Interessen? Wie lässt sich weiterhin Kunst produzieren, wenn um uns herum alles auseinanderzufallen scheint? Wie können wir die Komplexität unserer Realität durchschauen, ohne in stereotype Muster oder vereinfachende Parolen zu verfallen? Und genau in dieser Vielschichtigkeit stellt sich die Frage: Was bedeutet es heute, als israelische*r Künstler*in – in Deutschland und in Israel – zu performen?

In dieser politisch aufgeladenen Gegenwart betreten wir den Saal des DOCK ART während des Mash Dance Berlin Festivals, das jährlich seit 2017 im DOCK ART in enger Kooperation mit dem Machol Shalem Dance House Jerusalem stattfindet – und sehen auf der Bühne zwei Tänzer*innen, die reglos wie Schaufensterpuppen hereingetragen werden. Ihre Körper werden sorgfältig arrangiert, Schicht um Schicht mit transparenter Folie umwickelt, bis sie vollkommen ineinander verschlungen sind: Arm in Arm, Wange an Wange, zur Statue erstarrt. Kein Zucken, keine Regung. Ein Moment der Beklemmung: Bekommen sie überhaupt noch Luft?
Als die Folie langsam aufgerissen wird, sinken die Körper leblos in sich zusammen. Sie sacken zu Boden, werden aufgerichtet, wieder fallen gelassen – ein zähes Ringen mit der Schwerkraft. Kleidung wird getauscht, die Grenze zwischen Puppe und Mensch verschwimmt. Zwei Körper, scheinbar willenlos, manipuliert und kontrolliert von zwei anderen. Die Dynamik auf der Bühne wird zunehmend komplexer: Die acht Tänzer*innen verwickeln sich in immer neue Begegnungen. Nähe wird gesucht, erprobt – und wieder zurückgewiesen. Verbindungen werden geknüpft, gelöst, neu verhandelt. Vertrauen vorsichtig ertastet, gewährt, widerrufen. Unterschiedlichste Formen der Annäherung und Abwehr werden durchgespielt – und doch verfangen sich die Bewegungen immer wieder in gendertypischen Klischees. Calvin Klein for the Boys. Victoria’s Secret for the Girls. Alles wirkt durchinszeniert. Alles ist synchron. Was wir sehen, sind nicht bloß Körper in Bewegung, sondern Abbilder einer medial normierten Wirklichkeit – eine Choreografie des Scheins, in der das Lebendige längst erstarrt ist.

Roni Chadashs Gruppenchoreografie perFORMing LOVE wird am zweiten Abend des Mash Dance Berlin gezeigt. Anstelle eines ausführlichen Programmtextes rückt in der Ankündigung des Stückes ein Zitat in den Mittelpunkt, das wie ein unsichtbarer Faden durch das Stück führt: „Aber freilich diese Zeit, welche das Bild der Sache, die Kopie dem Original, die Vorstellung der Wirklichkeit, den Schein dem Wesen vorzieht; denn heilig ist ihr nur die Illusion, profan aber die Wahrheit.“
Ludwig Feuerbach formuliert hier 1841 in Das Wesen des Christentums eine grundlegende Kritik an Religion – genauer: an der Tendenz des Menschen, lieber ein Bild von einem transzendenten Gott zu verehren, als sich mit der leiblich-sinnlichen Realität des Menschseins auseinanderzusetzen. Religion wird als Illusion entlarvt, als Konstruktion, die den Menschen von seinem wirklichen Dasein entfremdet. Feuerbachs Haltung ist eindeutig ideologiekritisch: Er zeigt, wie Bilder, Vorstellungen und Glaubenssysteme die Wirklichkeit überlagern und verdrängen – und so das Bestehende legitimieren. Feuerbachs Kritik wirkt bis in unsere Gegenwart: eine Welt, in der Menschen nicht mehr unmittelbar an der Realität teilhaben, sondern vorgefertigte Versionen von Wirklichkeit konsumieren – über Werbung, Fernsehen, Social Media oder spektakulär inszenierte Events. Entfremdung bedeutet hier Fremdbestimmung: die Abkehr von etwas Wesentlichem zugunsten von Abbildern und Surrogaten, die uns von uns selbst und voneinander entfernen, uns beruhigen, betäuben, kontrollieren.
Diese ideologiekritische Linie lässt sich auch zu Yasmeen Godders Practicing Empathy #3 ziehen – dem dritten Teil ihrer seit 2019 entwickelten Serie zum Thema Empathie, die am dritten Festivalabend gezeigt wird. Godder setzt genau an der Warnung vor Realitätsverlust an: Sie fragt, wie Empathie – leiblich, emotional, sozial – erfahrbar gemacht und damit reale Begegnung zwischen Fremden ermöglicht werden kann. Practicing Empathy #3 kann deshalb auch als ein Gegenentwurf zur entfremdeten Gesellschaft des Spektakels gedeutet werden. Es sucht nach Wegen, Empathie als ein Verhalten jenseits von religiösen oder politischen Illusionen und ihren Repräsentationen zu erforschen, ein Verhalten jenseits eines Freund-Feind Schemas.

Ich erinnere mich, wie ich Practicing Empathy 1, 2 und 3 während der Covid-Pandemie sah – mitten in einer anderen globalen Krise, in der Nähe und Berührung nahezu unmöglich geworden waren. Die Stücke wirkten damals wie ein utopischer, sehnsüchtiger Gegenentwurf zur Realität von Hygieneregeln, Abstand, Isolation und geschlossenen Grenzen.
Und heute? Heute, inmitten der nächsten großen Krisen – wie dem Krieg in Gaza und dem Ukraine-Krieg – ist Empathie noch dringlicher, aber zugleich noch ferner gerückt. In diesem Kontext wirkt Yasmeen Godders Zelebrierung ihrer Präsenz und das Erschaffen eines „personal safe space“ mittels einem aus Fasern gestrickten, zugleich robusten und rauen Kokon auf der Bühne weniger subversiv, aber beinahe deplatziert, eskapistisch – auch wenn sie selbst betont, wie sehr sie sich der politischen Aufladung und aktuellen Kontextualisierung bewusst ist und während der Performance immer in sich spürt.
In einer Welt, die sich zunehmend in feindliche Lager aufspaltet, in der menschliches Leid gefiltert, instrumentalisiert oder verdrängt wird, stellt sich die Frage neu: Wie lässt sich Empathie leben inmitten von Schmerz, Gewalt und politischer Ohnmacht? Wie sich verhalten – ohne zu entmenschlichen, zu relativieren oder zu erstarren?

In genau diesem Spannungsfeld bewegt sich Mica Kupfers Solo Walking on Two. Ihr Stück gleicht einem stille, poetisch-abstrakten Versuch, sich tastend durch eine polarisierte Welt zu bewegen. In präzisen, reduzierten Bewegungen erforscht sie die Möglichkeiten körperlicher Präsenz und Transformation. Durch minimale Verschiebungen und Variationen von Haltung, Rhythmus und Dynamik entstehen neue Relationen zwischen den Körperteilen – der Körper setzt sich immer wieder anders zusammen, ent- und ver-formt sich. Ihre Choreografie wirkt wie ein vorsichtiges Ausloten von Form und Ausdruck inmitten von Ungewissheit und Unübersichtlichkeit – nach einer Kommunikation, jenseits vorgefertigter Sprachschablonen mit ihren reflexartigen Aktionen. Und damit als Versuch, eine oder mehrere Antworten auf das laute, politisch überfrachtete Außen zu finden: nicht als Rückzug, sondern als Bemühen, unter radikal veränderten, gewalttätigen Bedingungen überhaupt noch Resonanz zu erzeugen. Die Bühne wird so zu einem Ort, an dem Ambivalenz erlaubt ist, an dem Widerspruch ausgehalten und durch Bewegung artikuliert werden kann. Es ist nicht die eindeutige Botschaft, sondern das tastende, suchende Fragen, das hier zählt.

Jette Büchsenschütz, Berlin, 25.08.2025

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