L/are we dreaming

Die Zauberin

Bewegst du dich solo, neutral – oder folgst du jemand anderem? Und bis du überhaupt in deinem Körper? Der Abend beginnt mit einem klar formuliertem Score: „Solo – Neutral – Follow“. Du entscheidest, wo du dich befindest – im Körper, im Raum, im Verhältnis zu den anderen. Wo beginnt mein eigener Impuls? Wieso halte ich inne? Und wann lasse ich mich leiten?


„Whose body are you in? Sure about that?“

Diese Fragen stellen sich mit jedem Schritt, mit jeder Geste aufs Neue. Denn was zwischen Körpern geschieht, ist kein leerer Raum, sondern energetische Spannung – ein unsichtbares Gewebe aus Nähe, Reibung, Rückzug und Antwort. Sara Shelton Mann spricht davon, das „Klebezeug“ zwischen Menschen sehen zu können – jene Verhandlungen, die als groteske Zusammenstöße sichtbar werden, obwohl es doch Energie ist, die die Körper umgibt. Und trotzdem stoßen sie gegeneinander oder nehmen irgendeine Haltung an. Warum eigentlich?
Zur Eröffnung des Abends hat Sara Shelton Mann die Tänzerinnen Christine Salut Bonansea und Rita Vilhena eingeladen, diesen Score improvisatorisch zu befragen. Musik flirrt durch den Raum, überlagert von multiplen, plappernden Stimmen, die sich durchdringen, sich verstärken oder auslöschen. Gleichzeitig bewegen sich die beiden Tänzerinnen unaufhörlich durch den Raum – schwankend, schwebend, fließend – in einem Zustand ständiger Wandlung. Das Gefühl von Unstetigkeit und Haltlosigkeit verstärkt sich durch Lichtzonen, die Räume markieren, um sie gleich darauf wieder verschwinden zu lassen.
Das Stück beginnt wie ein Strom – ein Redeschwall, ein Bewerbungsdrang, ein Übermaß an Zeichen. Und doch bleibt alles durchlässig, offen, bruchstückhaft.

Der Score ist weit mehr als eine choreografische Struktur. Er ist ein lebendiges Koordinatensystem, in dem Präsenz, Beziehung und Selbstwahrnehmung immer neu ausgehandelt werden. Bin ich Aktion oder Reaktion? Impuls oder Echo? Alles zusammen?
„Solo – Neutral – Follow“ ist keine fixierende Anweisung, sondern ein sich wandelnder Zustand. Eigentlich auch kein Zustand sondern eine fortschreitende Umgestaltung. Die Performer*innen gleiten durch diese Modi hindurch –transparent, flüssig, in ständiger Verwandlung. Jeder Moment ist eine Entscheidung – und immer auch ein Verzicht auf das, was man gerade nicht ist. Eine Bewegung kann Resonanz auslösen oder bewusst ins Leere führen. Nichts wird behauptet, alles bleibt fragil, offen, tastend.

„Repeat this path again as quicksilver, like Alice sliding down the rabbit hole.“

Sara Shelton Mann und Jesse Zaritt lernten sich vor 10 Jahren in Utah kennen – und arbeiten seitdem zusammen. L/are we dreaming ist eine Fortsetzung dieses jahrelangen künstlerischen Dialogs und ist eine intensive Begegnung beider, die sich durch Tanz, Klang, Sprache und Zeichnung entfaltet.

Shelton Mann sitzt am Laptop und klickt auf Play. Beethovens 3. Klavierkonzert in c-Moll, op. 37 erklingt – unerwartet monumental, mal leidenschaftlich, mal zart. Jesse Zaritt beginnt zu kreisen, zu wirbeln, stürzt gegen Wände, hält inne, fällt in sich zusammen. Er verharrt, scheinbar an der Wand klebend, richtet sich neu aus, sinkt in die Hocke und bleibt reglos – genau in dem Moment, in dem das Orchester aufbraust, die Streicher anschwillen und das Klavier einsetzt. Dann ein abrupter Stop. Die Musik bricht ab, Sekunden später setzt sie wieder ein – scheinbar zufällig. Shelton Mann steuert das Stop-and-Go beiläufig – während Zaritt tanzt, tanzt, tanzt, als gäbe es keinen Schnitt, keine Unterbrechung.
Diese Spannung wird durch das Lichtdesign verstärkt, das improvisierend auf Bewegung und Klang reagiert und das zwischen blendendem Weiß, diffusem Dämmerlicht, abruptem Schwarz fluktuiert. Räume entstehen und lösen sich wieder auf. Auch hier: kein Halt, kein Boden, kein stabiler Raum.
Beider Präsenz bewirkt weniger eine Darstellung von etwas, eher einen Zustand: verletzlich, suchend, offen für Reibung. Der Körper ist nicht nur Material, sondern sensitives Medium – also gerade nicht Ausdruck von etwas, sondern das Geschehen selbst. Was ist Erinnerung im Körper? Wie spricht Raum durch Geste, durch Stimme, durch Atmung? Shelton Mann und Zaritt begegnen einander mit einer radikalen Aufmerksamkeit. Sie umkreisen sich, hören zu, stoßen sich ab, antworten nicht immer.

„Play with the rhythm, foreground, and background of your creation while traversing the path.“

Nichts bleibt konstant, doch alles ist bewusst. Es geht um das Dazwischen – sein Durchqueren . Rhythmus, Vordergrund, Hintergrund verschieben sich, überlagern einander, lösen sich auf. In diesem Spiel zwischen Struktur und Auflösung entsteht ein Raum, der sich immer wieder neu formt – ein tastender Versuch, im Traum wach zu bleiben.
Sara Shelton Mann bewegt sich mit ihren 81 Jahren wie eine weise Zauberin konzentriert durch diesen Raum. Sie hält nichts fest, aber sie hält alles zusammen: den Abend, die Körper, die Brüche, das Zittern – und auch das Publikum. Ihre Worte wirken wie kleine Störungen im Ablauf: Verweise auf Krieg, auf amerikanische Politik, auf die Zumutungen der Gegenwart. Ihre Stimme erzählt nicht, sie markiert einen leisen Widerstand.

The time of my death has come.

Ein Satz, der hängen bleibt. Kein dramatisches Finale, eher ein Innehalten. Ist es der Abschied von einer Haltung, einer Zeit, einer Form? Oder einfach ein nächster Übergang?
Vielleicht liegt darin die eigentliche Stärke dieses Abends: dass er sich weigert, zu behaupten oder zu erklären. Stattdessen lädt er uns ein, in Bewegung zu bleiben – zwischen Zuständen, Körpern, Bedeutungen. Zwischen dem, was wir zu wissen glauben, und dem, was noch ungewiss ist.
Als die Bühne langsam ins Dunkel kippt, bleibt etwas zurück. Als hätte jemand die Zeit kurz aufgehoben, damit wir anders wieder hineintreten können.

Was träumst du?

Berlin, 09.07.2025

Alle Zitate sind aus Sara Shelton Manns Buch „Moving Alchemy“, 2025, S. 88 f.

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