INTRICACY
© Harriet Meyer

Verschränkte Gegenwarten: ein Gespräch mit Christine Bonansea Saulut

Anlässlich von Christine Bonansea Sauluts Stück Intricacy beleuchtet das Gespräch den kollaborativen Entstehungsprozess des Stücks, in dem Choreografie und Klang aufeinandertreffen. Es reflektiert die sich wandelnde Natur von Zeit und Raum auf der Bühne, und wie Präsenz, Reaktionsfähigkeit und digitale Tools in einer Praxis zusammenfließen, die sich den Komplexitäten – den Intricacies – zeitgenössischer Performancekunst widmet.

Was war der Ausgangspunkt für Intricacy?

Intricacy ist ein Dialog zwischen zwei Künstler*innen - mir und der Komponistin Pamela Z. Wir haben uns vor 14 Jahren aufgrund unseres gemeinsamen Interesses an Improvisation und Experimentieren in Kalifornien kennengelernt. Mit der Zeit hat sich daraus ganz natürlich unsere Zusammenarbeit entwickelt, basierend auf gegenseitigem Respekt und einer intuitiven kreativen Sprache.
Das Stück begann als spontane Skizze für ein Festival in San Francisco im Januar 2019 – entstanden in nur wenigen Stunden. Als Pamela später nach Berlin kam, haben wir es für DOCK ART aufbauend auf dieser frühen Grundlage überarbeitet und erweitert.
Konzeptionell erforscht das Werk Raum, Zeit und Verbindung, inspiriert von der Quantenverschränkung – dem Phänomen, bei dem zwei Elemente über Entfernungen hinweg miteinander verbunden bleiben und sich auf scheinbar intuitive und intelligente Weise gegenseitig beeinflussen.

Könntest du etwas näher auf deine Zusammenarbeit mit Pamela Z. und die Verschränkung von Klang und Bewegung, Komposition und Choreografie eingehen?

Pamela entwickelt seit über 30 Jahren ihre eigene künstlerische Praxis. Sie hat mit Hilfe von Sensoren und Beschleunigungsmessern eine einzigartige technische Sprache kreiert, die Bewegung, Gestiken und Stimme über speziell entwickelte Controller integriert. Ihre Arbeit ist sowohl anspruchsvoll als auch makellos; die Technologie ist präsent, aber nicht aufdringlich, so dass ihre opernhafte Stimme und die Subtilität ihrer Kompositionen auf sehr raffinierte Weise zur Geltung kommen.
Ich habe im Laufe der Jahre viel mit experimentellen Musiker*innen gearbeitet - von Elektronik- und Noise-Künstler*innen bis hin zu klassischen Musiker*innen, die umfangreiche Techniken und unkonventionelle Klänge einsetzen. Diese Art von Klangarbeit resoniert mit mir körperlich. Aufgrund ihrer Dichte, Frequenz und Schwere höre ich sie nicht nur – ich fühle sie. Sie wird zu etwas, das ich verkörpern kann. Sie formt den Raum und gibt mir etwas, mit dem ich mich bewegen und auf das ich reagieren kann.
In Intricacy entsteht ein tiefgreifender Dialog zwischen zwei unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksformen – meinem körperlichen Bewegungsvokabular und Pamelas Klangwelt –, der keine einheitliche Verschmelzung, sondern eher ein vielschichtiges Gespräch ähnlich einer Collage darstellt. Das Besondere an dieser Zusammenarbeit ist, wie wir unsere individuellen künstlerischen Identitäten beibehalten während wir eine wechselseitige Beziehung zueinander aufbauen, in der wir uns gegenseitig begleiten und aufmerksam zuhören. Die Performance lebt von dieser Verbindung, in der es nicht um Synchronisierung geht, sondern darum gleichzeitig in Intimität und unabhängig voneinander den Raum miteinander zu teilen.

In Intricacy erforschst du Aspekte der Quantenverschränkung. Wie lässt sich dieses Konzept in eine choreografische oder performative Sprache übersetzen?

Über Quantenverschränkung in physikalischen Begriffen zu sprechen, ist abstrakt – es geht um Teilchen, die wir nicht sehen können, aber ihre Prinzipien sind wissenschaftlich bewiesen. Auch wenn wir sie im täglichen Leben nicht wahrnehmen, spüren wir dennoch eine Vielzahl unsichtbarer Kräfte. Ohne mystisch zu sein, glaube ich an energetische Felder als etwas sehr Reales und Physisches.
Im Tanz sind unsere Körper in ständigem Dialog mit diesen unsichtbaren Dynamiken – mit Zeit und Raum. Die körperliche Achtsamkeit intensiviert sich immer auf der Bühne.
Hier dient Quantenphysik, insbesondere das Konzept der Quantenverschränkung, sowohl als Metapher als auch als Inspiration. Sie evoziert eine tiefe Verflochtenheit, bei der Elemente gleichzeitig und in Beziehung zueinander existieren. Anstatt nach perfekter Harmonie zu streben, interessiert mich, wie sich verschiedene Elemente im Tandem entfalten, verbunden durch unsichtbare, dennoch starke Systeme der Verbundenheit und Resonanzfähigkeit.
In meiner Zusammenarbeit mit Pamela hat sich die Choreografie auf einer gemeinsamen strukturellen Basis entwickelt, die auf charakteristische Stadien, signifikante Aktionen und kompositorische Elemente wie Akkumulation, Unterbrechung und Wiederholung zurückzuführen ist. Pamela verwendet Looping-Sounds, zyklische Videosequenzen und wiederkehrende räumliche Konfigurationen – wie das Videoviereck im Stück, das eine Begrenzung suggeriert, oder Bewegungsmuster, die an eine labyrinthische Navigation erinnern –, um Empfindungen von zyklischer Zeit, Desorientierung und zeitlicher Resonanz zu erzeugen. Wie durch ein Prisma verschiedener metaphysischer Perspektiven, gespeist aus Literatur, Philosophie und Physik,
ich Themen, die die menschliche Existenz betreffen.

Die Quantentheorie legt nahe, dass Ereignisse sowohl zeitlich als auch räumlich korreliert werden können. In Intricacy schaffst du Momente, in denen vergangene und zukünftige Handlungen zu verschmelzen scheinen – in denen die Bewegung außerhalb der linearen Zeit ein Echo oder eine Vorwegnahme ihrer selbst zu sein scheint. Wie choreographierst du dieses Gefühl der zeitlichen Unschärfe?

Um es einfach auszudrücken: Es geht darum, ganz in der Gegenwart zu sein. Die Gegenwart ist wie ein Funke - sie wird augenblicklich zur Vergangenheit und berührt bereits die Zukunft. In diesem Zustand erhöhter Präsenz kann die Zeit verschwimmen. Das ist kein theoretisches Konzept - es ist eine physische, gelebte Erfahrung.
Ich arbeite oft mit improvisierten Strukturen, die extreme Sensibilität erfordern. Diese Wachsamkeit schafft eine Echtzeit-Intensität, die stärker ist als jede konstruierte oder virtuelle Erfahrung. Auf der Bühne wird diese Präsenz noch verstärkt: Man trägt die Erinnerung in sich und wird gleichzeitig zu dem hingezogen, was als Nächstes kommt. Wenn man sich auf diese Spannung einlässt, öffnet sich ein Raum, in dem sich Vergangenheit und Zukunft überschneiden.
In Intricacy entsteht diese Überblendung organisch. Wir haben ein reaktionsfähiges kompositorisches System entwickelt, das nicht starr ist, sondern durch Wiederholungen, Schleifen und Unterbrechungen strukturiert wird. Diese Elemente erzeugen Widerhall, Vorwegnahmen und Verschiebungen. Die Choreografie entsteht aus der Verbindung – zwischen Körper, Klang und Raum – und dadurch fühlt sich die Zeit fließend an, weniger linear, mehr verschränkt.

Deine anderen Arbeiten wie Yūgen, Artificial Archeology oder GAMER, zeigen eine intensive Auseinandersetzung mit Technologie. Wie beeinflussen diese technologischen Elemente deinen choreografischen Prozess? Wie prägen sie dessen Narrative oder Themen?

Für mich beginnt die Dramaturgie oft mit dem Raum - nicht als Kulisse, sondern als aktive Triebkraft. Selbst an traditionellen Spielorten stelle ich mir vor, wie sich Körper zu ihrer Umgebung verhalten. Dieser räumliche Fokus führte mich auf natürliche Weise zu multimedialen Werkzeugen: Licht, Ton und sensorisches Design wurden so zu strukturellen Elementen meiner Arbeit.
Mit der Zeit entwickelte sich daraus eine Beschäftigung mit komplexeren Technologien, mit visueller Kunst, Sounddesign und schließlich mit digitalen Systemen. In der Zusammenarbeit mit Musiker*innen, bildenden Künstler*innen und Programmier*innen verhandle ich ständig, wie all diese Medien miteinander sprechen können. Als Choreografin, Performerin und künstlerische Leiterin sehe ich mich als Vermittlerin zwischen diesen Formen - als jemand, der die Richtung vorgibt, aber auch darauf achtet, wie die Werkzeuge miteinander verschmelzen, um gemeinsam eine einzigartige Ästhetik zu schaffen.
In GAMER habe ich zum Beispiel mit dem Roboterprogrammierer und -designer namens So Kanno zusammengearbeitet. Seine 60 Roboter namens „Lasermice“ erinnerten mich an Videospielfiguren. Daher habe ich ein Stück choreografiert, das seine Arbeit mit Robotern mit einer Dramaturgie verbindet, die die Zeitlichkeit des Designs von Videospielen reflektiert.
Später habe ich begonnen, Motion Capture zu verwenden, insbesondere in Yūgen. Das war zugleich aufregend und einschränkend. Während Motion Capture eine neue Art der Verkörperung ermöglicht, schränkt es meiner Meinung nach auch den körperlichen Ausdruck ein - es komprimiert die Nuancen der Bewegungsqualität, die Beziehung zur Schwerkraft und das Körperbewusstsein.
Derzeit entwickle ich ein Projekt mit einem KI-Kamera-Tracking-System, das die Analyse von Bewegungsqualität und Verkörperung in Echtzeit ermöglicht. Ziel ist es, eine Echtzeit-Reaktionsfähigkeit zu erreichen, die intuitiver und weniger invasiv für den Darsteller ist.
Ich betrachte die Integration von Technologie auch als ein politisches Statement: Wie können wir unsere Beziehung zur Technologie bewusst verkörpern, herausfordern und neu gestalten können? Sie unterstreicht die Bedeutung körperlicher Präsenz in einer zunehmend Systemen dominierten Welt und betont den Wert taktiler Erfahrungen, subtiler Ausdrucksformen und kreativer Autonomie. Meine Integration von Technologie geht über innovative Trends hinaus, denn sie stellt unsere Position als mit unseren Körpern arbeiten Künstler*innen in einer sich verändernden Gesellschaft grundsätzlich infrage und sucht nach einem sinnvollen Gleichgewicht zwischen Menschlichkeit und technologischem Fortschritt.

Wie hat sich dein choreografischer Ansatz im Laufe der Zeit entwickelt? Gab es bestimmte Prägungen oder Wendepunkte?

Mein choreografischer Weg begann mit einer Zusammenarbeit mit Komponist*innen in San Francisco – dadurch entstand der Wunsch, Klang durch Bewegung und Raum zu verkörpern. Klang ist nach wie vor von zentraler Bedeutung für meinen Prozess: Er definiert den Raum und erzeugt ein Momentum, das die Präsenz des Körpers in diesem Raum informiert und durchdringt.
Im Laufe der Zeit hat sich meine Ästhetik durch verschiedene Einflüsse weiterentwickelt: Pädagogen wie Sara Shelton Mann, deren somatische und transformative Praktiken mein Denken über Raum und Aufmerksamkeit tief geprägt haben; minimale und grell visuelle Stile; und philosophische oder literarische Referenzen wie Existenzialismus, Phänomenologie und vielleicht Strukturalismus, die meinen konzeptionellen Ansatz beeinflussen haben.
Meine Arbeit ist experimentell und forschend, sie basiert auf Recherche, zeitgenössischen Tools und Ausdrucksmittel. Obwohl sie oft recht abstrakt sein scheint, reflektiert sie wesentliche metaphysische Fragen.

Berlin, 27.05.2025

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