Happy Hour

Camping

Sakrale Musik empfängt das Publikum. Das Licht ist schummrig, rötlich, halb Kirche, halb Nachtclub. Ein Engel tritt auf, dann zwei, dann drei – auf Spitzenschuhen, balancierend, trippelnd zwischen Erscheinen und Entgleiten. Es wirkt weniger wie Ballett, mehr wie Beschwörung. Ist das eine lateinische Messe, die ich höre, oder nur ein Widerhall heiliger Gesänge – oder doch Parodie auf das Sakrale?
Zwischen Erhabenheit und (Selbst)-Parodie – ernst gemeint und gleichzeitig zu viel. Genau in dieser Spannung bewegt sich Happy Hour von Tomi Passonen: zwischen Ritual und Trash, zwischen Heiligkeit und Camp.
„It’s too much.“ Oder vielleicht: „Ja, genau so.“ – hätte Susan Sontag notiert. Zu viel Pathos in der Musik, zu viel Rot im Licht, zu viele Engel auf zu engen Spitzenschuhen. Aber genau dieses Übermaß macht die Szene aus. In ihren Anmerkungen zu Camp (1964) schreibt sie: „Der ganze Sinn des Camp liegt in der Entthronung des Ernstes. Camp ist spielerisch, anti-seriös. Genauer gesagt: Camp zeichnet sich durch eine neue, komplexere Beziehung zum „Ernsthaften“ aus. Man kann es ernst meinen mit dem Frivolen, frivol mit dem Ernsten.“ Und hier, gleich zu Beginn von Happy Hour, wird klar: Wir betreten keinen sakralen Raum, sondern ein Camp-Universum, in dem Engel und Zombies, Priesterinnen und Heavy Metal nebeneinander Platz haben.
Mit dem Auftritt der Priesterin setzt Storytelling ein: Kindheit, Boy/Girl-Genderdivision, das Gefühl, wie ein Geist durch das eigene Leben zu treiben. Die Drag-Bühne wird zum Ort, an dem diese Erfahrungen kanalisiert werden können.
Nach der Pause kippt die Stimmung. Die „Engel“ kehren zurück, doch die Atmosphäre ist erratisch. Spitzenschuhe verschwinden, hohe Absätze erscheinen, Tüllschleier und viel Glamour, ein Spiel mit Verhüllen und Enthüllen. Die Queen of Heaven tritt auf, aber jetzt in Zombiegestalt, während Heavy Metal auf Opernarie trifft. Extreme Wechsel, irritierende Überlagerungen – ein bewusst erzeugtes unheimliches, düsteres Gefühl: Trash, Überhöhung, ironische Brechung. Die überbordenden Codes, die hier aufgerufen werden, bleiben bruchstückhaft, ziellos, unbestimmt: Ballett, Barock, Gothic, Trash-TV, Yoga-Session, Golfplatz.
Wie in früheren Stücken arbeitet Tomi Paasonen besonders mit der Verschmelzung von Drag und Ballett: Die Performer*innen agieren als strahlende Ballerina, corps de ballet, gleichzeitig als Figuren, die sich jeder Norm entziehen. Yoga, Golf, gestreckte Arme – alles überhöht, absurd stilisiert, aber choreografisch präzise. Drag, das ernste Spiel mit Geschlechteridentitäten, wird zur körperlichen Syntax, die narrative, emotionale und ästhetische Codes gleichzeitig aufruft. Alles wirkt wie ein Anleitung zur Achtsamkeit – und gleichzeitig wie deren Parodie: „Surrender to the present moment.“ Die Performerinnen sabbern, kauen auf ihren Mundstücken: grotesk, körperlich, abstoßend.
Darunter schlummert eine Schicht von Tragik. Die Queen wird langsam aus ihrem Kostüm geschält, bis nur noch Fragilität bleibt. Der Tanz mit dem Tod fusioniert mit Gregory Porters „Smile“. Tragikomik, tiefe Melancholie – und die Erinnerung daran, dass Lächeln manchmal die letzte Waffe gegen das Verschwinden ist.
In ihrem Essay
Anmerkungen zu Camp beschrieb Susan Sontag eine Ästhetik der Übertreibung, der Künstlichkeit und eines „guten Geschmacks des schlechten Geschmacks“ , der die Grenzen zwischen Hoch- und Popkultur verwischt: eine spielerische und hedonistische, anti-seriöse Art, die Welt als ästhetisches Phänomen mitsamt ihrer Trivialität zu genießen. Camp sei die „Liebe zum Unnatürlichen: zum Trick und zur Übertreibung“. Es ist kein bloßes Stilmittel, kein Dekor – es ist eine Haltung, eine „Erlebnisweise“ (im Original „sensibility“), eine Art, der Welt mit Übertreibung, Ironie und gleichzeitig mit Ernst zu begegnen. Camp nimmt das Lächerliche ernst und ironisiert das Erhabene. Denn „[d]er Camp-Geschmack wendet sich von dem Gut-schlecht-Schema der üblichen ästhetischen Wertung ab.“ Oder wie Charles Kennedy, in Christopher Isherwood’s Novelle The World in the Evening* (1954), (den Susan Sontag ebenfalls in ihrem Essay erwähnt) beschreibt:

„You can't camp about something you don't take seriously. You're not making fun of it, you're making fun out of it. You're expressing what’s basically serious to you in terms of fun and artifice and elegance. Baroque art is basically camp about religion. The ballet is camp about love …“

Hier, auf Paasonens Bühne, wird diese Logik evident: Engel in Spitzenschuhen wirken gleichzeitig schön und albern, sakral und banal. Und too much. „Camp ist der Triumph des epizönischen Stils.“ schreibt Susan Sonntag und fügt in Klammern hinzu: „(Die Austauschbarkeit von Mann und Frau, Person und Sache.)“. In anderen Worten: Camp ist der Triumph von Queerness. Camp erlaubt es, Widersprüche nicht nur auszuhalten sondern zu genießen, das Übertriebene und Unmäßige als Ausdruck von Sinnlichkeit und Emotionen wahrzunehmen. Es feiert das Übermaß und macht es zur Form – zur Form einer Erzählung, einer Haltung, eines Spiels auf der Bühne, weil die Theaterbühne selber zur Metapher des Lebens wird – auf der wir unsere Rollen spielen.
Entsprechend verschränken sich hier Drag und Ballett zu einer choreografischen Sprache, die ironisch, tragisch, banal und erhaben zugleich ist. In einer Logik der Maßlosigkeit werden Codes aufgehäuft, gemixt, dekonstruiert und gleichzeitig gefeiert. Jede Pose, jeder Schritt, jeder übertriebene Ausdruck ist sowohl Zitat als auch dessen Überschreitung: Barocke Eleganz trifft auf groteske Verzerrung, Klassik auf Pop, Spiritualität auf Ironie, Trash auf Transzendenz.
Drag wird so zur „queer art of manifestation“ wie wir im Stück hören; nicht um Wirklichkeit nachzuahmen, sondern um sie zu erweitern, sichtbar zu machen, was sonst unsichtbar bliebe. Passonen macht aus der Bühne einen Ort, an dem persönliche Erinnerung, kulturelle Codes und ästhetische Extreme in einer bizarren poetischen Logik zusammenkommen.
Happy Hour ist in diesem Sinn keine „Happy Hour“, sondern eine queere Messe, eine Beschwörung der Epiphanie, eine Feier des Unvereinbaren, die im Übermäßigen auf Sinn spekuliert, und im Unheimlichen auf heimlich Ersehntes. Ein theatralischer Raum, in dem Trash sich selber transzendiert und Lachen und Weinen ununterscheidbar ineinanderfließen – und in dem Drag tatsächlich zur „Art of Manifestation“ wird.

Jette Büchsenschütz, Berlin

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