field work

Elegie einer Landschaft

Im April 1525 hing in der Marienkirche von Mühlhausen in Thüringen ein ungewöhnlich großes Seidentuch: 35 Meter hoch, auf weißem Grund ein Regenbogen, darunter die lateinischen Worte „verbum domini maneat in etternum“ („Das Wort des Herrn bleibe in Ewigkeit“) und „dis ist das zeychen des ewigen bund gotes“ (in moderner deutscher Sprache: „Das ist das Zeichen des ewigen Bundes Gottes mit den Menschen“). Die Initiative ging von Thomas Müntzer aus, Pfarrer der Marienkirche, und Anführer des thüringischen Bauernaufstandes, der einen Monat später in der Schlacht bei Frankenhausen in einer Katastrophe endete. Der Regenbogen selbst – bereits im Alten Testament der Bibel erwähnt – wurde zum Symbol des Bauernaufstands, den Friedrich Engels den „großartigsten Revolutionsversuch des deutschen Volkes“ nannte – ein Versuch, der mit brutaler Gewalt niedergeschlagen wurde.

Heute hat die Regenbogenflagge – zeitweise als italienische, pazifistische Pace-Flagge berühmt – eine wiederum andere, aber nicht weniger politische Bedeutung: Sie ist zum weltweiten Symbol der queeren Bewegung geworden und steht für Vielfalt, Sichtbarkeit und rechtliche Gleichheit – für den Anspruch, bestehende Machtverhältnisse infrage zu stellen und gesellschaftliche Veränderungen einzufordern. Und sie bleibt bis heute ein umkämpftes Symbol.

Die Choreografin und Tänzerin Hannah Schillinger greift diese eher unbekannte Symbolgeschichte in ihrem Stück Field Work auf. Gemeinsam mit ihrem Co-Performer Aaron Lang durchläuft sie die vier Jahreszeiten, die hier als nicht bloße Naturbilder erscheinen, sondern als dramaturgische Klammer dienen – ein Hinweis auf den ewigen Kreislauf von Arbeit und Ruhe, Aussaat und Ernte. Geschichte erscheint nicht als linearer Fortschritt, sondern als Wiederkehr. Der Acker wird zum Resonanzraum, in dem sich Tradition und Gegenwart, Körper und Technik überlagern: materialisiert als Dreschflegel und Drohne, Handarbeit und Algorithmus.
Der Zyklus beginnt im Winter. Die Körper beugen sich, Arme schwingen aus, als zeichneten sie unsichtbare Furchen. Bewegungen aus der vorindustriellen Landwirtschaft kehren zurück – schwerfällig, archaisch, und zugleich durchzogen von höfischen Gesten, die an Reigentänze erinnern. Arbeit und Tanz, Mühsal und Fest fließen ineinander.
Im Frühling wird geharkt, gesät und gedüngt. In der Ferne erklingen Kuhglocken, während hölzerne Werkzeuge wie Dreizack und Dreschflegel zum Einsatz kommen – Geräte, die stets sowohl Werkzeug als auch Waffe waren. Besonders der Dreizack gilt als mythologisches und religiöses Attribut einer gewalttätigen Macht: Nicht nur Neptun, auch der Teufel trägt ihn. Der Dreschflegel wiederum verweist nicht nur auf bäuerliche Arbeit, sondern – abgeleitet von flagellum – zugleich auf Selbstkasteiung, Symbol einer Bußpraxis, die Körper diszipliniert, reinigt und läutert.
Auf der Bühne oszillieren diese Objekte zwischen Nostalgie und Fetisch, zwischen Folklore und Sadomaso. Lebenserhaltende Arbeit erscheint zugleich als Selbstbestrafung, Ackerbau als Ritual von Schmerz und Lust – der Acker als verwundete Landschaft, gezeichnet von menschlicher Geschichte und ihrem Drang nach Fortschritt, von Arbeit, von Begehren. In der Inszenierung schwingen all diese Bedeutungen mit: Die Werkzeuge erscheinen sowohl als nostalgische Folkloreobjekte wie auch als Symbole von Disziplin, Körperarbeit und deren Ritualen.
Der Herbst bringt die Ernte – und einen ausgelassenen, beinahe dionysischen Freudentanz. Doch die Ekstase kippt: Werkzeuge verwandeln sich in Prothesen, der menschliche Körper verschmilzt mit Maschinenphantasien. Schließlich erstarren die Gerätschaften zu Skulpturen, die nicht mehr genutzt, sondern nur noch betrachtet werden – Artefakte einer fortschrittsgläubigen Kultur, die sich selbst musealisiert. Am Ende fliegt eine Drohne über das Feld. Dazu erklingt sphärisch-verklärte Musik, fast kitschig, vielleicht als ironischer Kontrapunkt zum martialischen Charakter der Drohne – zugleich Bote digitalisierter Technik und Abgesandter der gegenwärtigen Kriege.
Tatsächlich durchzieht Field Work ein doppelter, mehrdeutiger Blick: auf die Arbeit mit Händen, die Nähe des Körpers zur Erde, und auf die Maschinen, die diese Arbeit ersetzen oder verfremden. Der Acker wird zur Bühne, auf der Geschichte in Wiederholungen und Verschiebungen erscheint – ein Raum, in dem bäuerliche Traditionen und digitale Gegenwarten aufeinandertreffen.

Hannah Schillinger ist wie ich auf dem Land aufgewachsen (aber in einer ganz anderen Region) – und doch empfinde ich meinen eigenen Blick weit weniger nostalgisch oder folkloristisch, als denjenigen, der in ihrem Stück vorherrscht. Meine Erinnerungen sind nicht von bäuerlicher Handarbeit geprägt, sondern von Bildern einer durch und durch industrialisierten Landwirtschaft: von gigantischen Maschinen, Monokulturen, automatisierten Abläufen, Dünger und Pestiziden, deren Wirkung man kennt und zugleich nicht kennt. Ich sehe den Fahrer im Mähdrescher vor mir, eingeschlossen in einer gläsernen Kabine, Handarbeit reduziert auf die Bewegung eines Joysticks. Die Verbindung von Körper und Erde scheint gekappt, ersetzt durch maschinelle Steuerung, durch Entfremdung und Isolation. Hubschrauber kreisen über Baumwipfeln, um Kalk ausstreuen, damit Wälder Nährstoffe erhalten, die das kranke Ökosystem nicht mehr selbst hervorbringt. Natur wird so zu einem Kreislauf, der nicht mehr sich selbst genügt, sondern von außen künstlich am Leben gehalten werden muss.
Vor diesem Hintergrund wirkt Field Work fast wie ein elegisch-klagender Gegenentwurf: Indem es Gesten bäuerlicher Arbeit rekonstruiert und punktuell mit moderner Technologie konfrontiert, erinnert es an eine Verwandtschaft von Körper und Natur, die in der industrialisierten Landwirtschaft weitgehend verloren gegangen ist – ohne dabei die Vergangenheit idealisieren zu wollen. Dennoch dominiert eine Art Trauer: das Stück zeigt, wie Arbeit, Ritual und Technologie ineinander greifen, wie Werkzeuge zu Fetischen und Maschinen zu Skulpturen werden. So entsteht das Bild eines in sich kreisenden Spannungsfelds, das weder reine Nostalgie oder technikfeindliche Kritik noch fortschrittsgläubigen Technologiefetischismus darstellt – sondern eher eine tastende Bewegung zwischen beiden Polen bleibt.
Gerade hier könnte Hannah Schillingers Bezug zum „Solarpunk“ eine Öffnung ermöglichen: zu einer ästhetischen und politischen Haltung, die sich eine ökologische Zukunft vorstellt, in der technologischer Fortschritt nachhaltig und regenerativ genutzt wird – und eine Vision jenseits von Krisenrhetorik und Zukunftsangst entwirft. Field Work würde so weniger in der Vergangenheit verweilen, sondern den Blick auf mögliche Zukünfte freigeben: auf eine Landwirtschaft, die Körper und Technologie weder trennt, noch ihre Harmonie herbei phantasiert, sondern neu verschränkt; auf ein Leben mit der inneren und äußeren Natur, das weder romantisiert noch funktionalisiert, sondern immer wieder neu ausgehandelt wird.

Jette Büchsenschütz, Berlin, 20.08.2025

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