
Zwischen Studio und Bühne – Poetik der Praxis
Seit seiner Gründung 2015 von Johannes Wieland und Evangelos Poulinas hat sich das b12 – festival for contemporary dance and performance art zu einem wichtigen Treffpunkt der internationalen Tanzszene entwickelt. Jeden Sommer kommen unzählige Dozentinnen und Choreografinnen zusammen, um ihr Wissen miteinander zu teilen und gemeinsam mit den Teilnehmerinnen neue Arbeiten zu erproben. Ein dichtes Programm aus Workshops, Performances, Showings und Diskussionsformaten schafft eine Plattform, die sowohl professionellen Tänzerinnen als auch Nachwuchskünstler*innen Raum zur Weiterentwicklung bietet.
Das Festivalmotto Research or die bringt ein zentrales Dilemma des zeitgenössischen Tanzes auf den Punkt: Künstlerisch-choreografische Forschung ist unverzichtbar, wird aber strukturell selten ernst genommen. Während in anderen Kunstsparten Recherche selbstverständlich gefördert, dokumentiert und anerkannt wird, gilt Tanz noch immer primär als Ausdrucks- oder Repräsentationspraxis – weniger als Erkenntnisform. Doch gerade im Tanz findet Forschung im Körper selbst statt: in der Entstehung und Transformation von Bewegungen und in der Frage, wie Körper gesellschaftlich und kulturell geprägt sind und welche Spuren diese Prägungen hinterlassen. Forschung im Tanz ist daher kein luxuriöses Extra, sondern eine Notwendigkeit – für die Weiterentwicklung choreografischer Praxis ebenso wie für die Anerkennung des Tanzes als eigenständige Form künstlerischer und gesellschaftlicher Reflexion. b12 setzt hier ein klares Statement: Recherche ist keine Zugabe, sondern die Grundlage des choreografischen Arbeitens.
Aus diesem Verständnis heraus ist auch die Struktur des Festivals gestaltet. Sie schafft gezielt Räume, in denen Rechercheprozesse sichtbar bleiben dürfen, ohne sofort in marktfähige Endprodukte münden zu müssen.
Unter dem Label „b12sungrazer“ präsentieren ausgewählte Lehrende fertige oder weit fortgeschrittene Stücke. In der letzten Festivalwoche unterrichtet u.a. Lukas Malkowski in den eden***** studios einen Workshop, der mit der Schwerkraft experimentierend Schwungtechniken erprobt, die das Fallen in fließende Boden- und Flugbewegungen verwandeln. Abends zeigt er im Saal von DOCK ART sein sehr persönliches Solo „Microphone Controller“:
Kaum erlischt das Saallicht, flimmert auf der Rückwand eine tonlos abgespielte Konzertaufnahme von Ozzy Osbourne (R.I.P.) auf. Untertitel beschreiben die Geräuschkulisse: „(Electric guitar screaming)“, „(Audience cheering)“. Von Anfang an stellt Malkowski – selbst CODA, also hörendes Kind Tauber Eltern – die Frage nach Wahrnehmung, Zugänglichkeit und Macht der Stimme. Was heißt es, Klang vermittelt, als Text oder Vibration zu erleben? Wie fühlt sich Musik an, wenn das Hören keine Option ist?
Die 50‑minütige Performance ist zugleich Tanzsolo und sensorisches Rockkonzert. Grell flackernde Lichter, wummernde Tiefbässe, die unter den Sitzflächen spürbar sind, und eine dichte Übertitelung begleiten das Publikum durch eine Flut gleichzeitiger Sinneseindrücke. Malkowski mixt laut gesungene Refrains, Spoken‑Word‑Passagen und gebärdete Monologe mal in DGS (Deutsche Gebärdensprache), mal in ASL (American-Sign-Language) zu einem vielstimmigen Selbstporträt. Ikonen wie Prince, Freddie Mercury, David Bowie, Nina Simone oder Sinéad O’Connor blitzen als Pop‑Geister auf und verweisen auf das Recht, die eigene Stimme – ob phonetisch oder visuell – zu erheben.
Private Videoeinspieler zeigen den Tänzer und Choreografen als Kind; dazu der väterliche Rat in Gebärdensprache: „Du brauchst kein Mikrofon. Wir können gebärden.“ Damit ist der Konflikt markiert: Muss er sich zwischen der Welt der Hörenden und der der Tauben entscheiden? Das Mikrofon, zunächst Zentrum seines Rockstar‑Alter‑Egos, wird irgendwann achtlos zur Seite geschoben. Schließlich singt und gebärdet er „Forever Young“– mit dem Rücken zum Publikum, fast für sich selbst, während der Bass weiterhin körperlich durch die Sitzreihen pulsiert.
Deutsche Lautsprache, englische Lyrics, DGS und ASL überlagern sich, manchmal leicht zeitversetzt. Diese Brüche machen sichtbar, dass Sprache immer ebenso an Körper wie auch an Konvention gekoppelt ist.
„Microphone Controller“ ist eine vielschichtige Versuchsanordnung, die Stereotype über Taubheit, Stimme und Popkultur unterläuft. Das Stück verhandelt Teilhabe als sinnliches Ereignis und fordert die Zuschauer*innen dazu heraus, ihr eigenes Hören – und Nicht‑Hören – infrage zu stellen.
Im Rahmen von „b12asteroids“ werden dagegen kürzere Arbeiten präsentiert, die während der Workshop-Tage gemeinsam mit den Teilnehmenden entwickelt wurden. „asteroids“ ist somit kein klassisches Bühnenformat, sondern ein Experimentierfeld, das die Grenze zwischen Studio und Bühne aufhebt. Die dort entstehenden Stücke sind offene, bisweilen fragile und unfertige Kompositionen – Momentaufnahmen einer fortlaufenden Recherche.
„Die Vorstellung ist nur ein Teil des Prozesses“, betont Johannes Wieland und ergänzt: „Der Reiz liegt in der Verschränkung von Workshop und Aufführung: Wir bringen etwas auf die Bühne und die Teilnehmenden sehen, wie die im Studio erarbeiteten Werkzeuge greifen – was dort erfahren und gelernt wurde und wie es künstlerisch umgesetzt wird. Genau diese Rückkopplung schafft die Verbindung, die uns interessiert. Die künstlerische Recherche war von Anfang an unser zentrales Thema – und ist es noch immer, weil im Tanz ständig die Zeit dafür fehlt. Mit den Workshops wollten wir deshalb einen Rahmen schaffen, der eben diese Zeit bietet.“
Diese Verzahnung von Workshop und Showing wirkt wie ein Katalysator: Innerhalb weniger Tage treffen unterschiedliche Körperbiografien, Sprachen und Arbeitsweisen aufeinander. Kohärenz wird nicht erzwungen; entscheidend sind die entstehenden Konstellationen. Viele Künstlerinnen reisen aus aller Welt an und bringen eigene Praktiken sowie Körperverständnisse mit. Diese Heterogenität ist Herausforderung und Potenzial zugleich: Nicht immer entsteht ein kohärentes Werk, doch genau darin liegt die Qualität der „asteroids“ Arbeiten. Es geht weniger um das Präsentieren eines abgeschlossenen Produkts als um das Sichtbarwerden von Entwicklung.
Ein Beispiel ist der gemeinsame Abend von Sebastian Zuber, Lali Ayguadé und Maura Morales. In Morales’ Performance entlud sich die Zusammenarbeit in einer befreienden Wasserschlacht: Die Tänzerinnen wickeln sich in Klarsichtfolie, befreien sich daraus, gleiten über einen gewässerten Bühnenboden, Wasser spritzt durch den Raum und verwandelt das Studio in ein flirrendes Planschbecken, in dem Verletzlichkeit mit Neuanfang ringt.
Damit hebt sich das Format deutlich von üblichen Festivalkonzepten ab, die Präsentation und Repräsentation in den Vordergrund stellen. Hier dagegen bleibt der störungsanfällige künstlerisch-choreografische Prozess bis zuletzt sichtbar und eröffnet einen Raum, in dem Bewegung – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn – wirklich stattfinden kann.
Jette Büchsenschütz, Berlin, 07.08.2025

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